Tag: AI

  • Die stille Revolution – Vom Internet der Seiten zumNetz des Bewusstseins

    Die stille Revolution – Vom Internet der Seiten zum Netz des Bewusstseins

    Es begann harmlos, fast spielerisch. Ein paar Zeilen Code, ein paar Rechner, ein Traum
    von Verbindung. Das frühe Internet war eine Werkstatt aus offenen Türen: jeder konnte
    senden, jeder empfangen. Es war das Versprechen, dass Wissen frei zirkuliert, dass
    Kommunikation demokratisch wird, dass die Technik den Menschen näher
    zusammenführt.
    Doch aus dieser Offenheit ist im Lauf der Jahre ein dichtes Geflecht aus Abhängigkeiten
    geworden. Was einst ein Marktplatz der Ideen war, ist zu einem System der Verwaltung,
    der Kontrolle und der Gewohnheit geworden. Der Mensch, der sich befreien wollte, hat
    sich selbst gebunden – aus Bequemlichkeit, aus Überforderung, aus dem Wunsch, es
    möge „einfach funktionieren“.
    Zuerst übernahm die Software die Herrschaft. Die großen Programme und
    Betriebssysteme versprachen Ordnung im Chaos. Sie machten die Welt übersichtlich,
    kompatibel, komfortabel – und schufen dabei Mauern, die niemand mehr hinterfragte. Wer
    ein Programm beherrschte, war produktiv; wer wechseln wollte, verlor Zeit, Daten und
    Nerven. So wurden Gewohnheiten zu Fesseln. Die Freiheit, Werkzeuge zu wählen, wich
    der Gewohnheit, sie zu mieten. Und langsam vergaßen wir, dass wir einst Schöpfer waren
    und keine Benutzer.
    Dann kam die zweite Welle: die digitale Infrastruktur. Das Netz wuchs, die Datenmengen
    explodierten, und bald hieß es: „Vertraut uns – wir speichern, sichern, skalieren für euch.“
    Serverräume wurden zu Wolken, der physische Besitz wich dem Versprechen
    unbegrenzter Verfügbarkeit. Man sprach von Effizienz, von Ausfallsicherheit und
    Nachhaltigkeit – doch der Preis war hoch. Die Systeme, auf denen alles läuft, gehören
    heute nur noch wenigen Händen. Daten reisen nicht mehr frei, sie kreisen um
    Machtzentren. Und kaum jemand weiß noch, wo sie wirklich liegen, wem sie gehören,
    oder wer sie liest.
    Jetzt aber, mit der künstlichen Intelligenz, vollzieht sich die dritte und tiefste Konzentration
    – nicht mehr der Technik, sondern der Deutung. Zum ersten Mal in der Geschichte
    entscheidet nicht mehr der Mensch, was er sehen will, sondern ein System, was er sehen
    soll. Wir stellen Fragen – und die Antworten kommen wie Orakel, glatt, sofort,
    verständlich. Doch je vollkommener die Antwort, desto unsichtbarer die Quelle. Wir wissen
    nicht mehr, aus welchen Stimmen, aus welchen Interessen, aus welchen Deutungen sie
    geformt wurde. Das Netz, das einst ein Mosaik war, wird zu einem Spiegel. Und wer
    diesen Spiegel kontrolliert, bestimmt, was Wirklichkeit bedeutet.
    Diese Entwicklung ist kein Unfall. Sie folgt der inneren Logik der Bequemlichkeit. Je
    komplexer die Welt wurde, desto mehr suchte der Mensch nach Vereinfachung. Er wollte
    sich nicht mehr mit Technik beschäftigen, nicht mit Verantwortung, nicht mit
    Unsicherheiten. Also ließ er los – Stück für Stück, System für System. Er übergab die
    Schlüssel an die, die es „besser können“, und bemerkte nicht, dass er damit auch die
    Fähigkeit abgab, selbst zu urteilen.
    So hat Bequemlichkeit leise das Tor geöffnet, durch das Freiheit entweicht. Denn Freiheit
    ist kein Zustand – sie ist eine Übung. Sie braucht Aufmerksamkeit, Wiederholung,
    Entscheidung. Wer sie nicht praktiziert, verliert sie. Und so entsteht heute eine paradoxe
    Welt: nie war der Mensch technisch mächtiger, nie war er innerlich abhängiger.
    Das neue, semantische Internet, das jetzt entsteht, ist nicht mehr das alte Web aus
    Adressen, Links und Seiten. Es ist kein Ort, den man besucht – es ist ein System, das uns
    besucht. Früher suchten wir Informationen; heute finden sie uns. Früher gab es Sender
    und Empfänger; heute gibt es nur noch Fragen und Antworten. Wir rufen – und eine
    Maschine antwortet, scheinbar neutral, scheinbar objektiv. Doch diese Maschine lebt nicht
    im Himmel. Sie hat Eigentümer, Interessen, Grenzen.
    In dieser neuen Welt gibt es keine Seite mehr, die „uns gehört“. Was zählt, ist, wer die
    Bedeutungen filtert, wer die Begriffe verknüpft, wer die Zusammenhänge formt. Die Macht
    verschiebt sich von den Produzenten der Inhalte zu den Kuratoren der Bedeutung. Das ist
    das eigentliche Monopol des 21. Jahrhunderts.
    Und doch ist diese Entwicklung nicht unvermeidbar. Sie folgt einer Dynamik, aber keine
    Naturgewalt zwingt uns, sie zu akzeptieren. Wir können nicht verhindern, dass KI die Welt
    interpretiert – aber wir können entscheiden, wo und wie Menschen weiterhin selbst
    deuten, verstehen, erzählen.
    Die einzige reale Gegenkraft ist Bewusstseinsbildung. Nicht im Sinne von Belehrung oder
    Schulung, sondern als Wiedererlernen von Urteil und Beziehung. Wenn wir wieder
    verstehen, wie Wahrnehmung entsteht, wenn wir beginnen, uns über Bedeutungen statt
    über Meinungen zu verbinden, dann kann etwas Neues wachsen: partielle semantische
    Netze, kleine, unabhängige Räume menschlicher Deutung, in denen Daten nicht Ware
    sind, sondern kulturelle Substanz.
    Solche Netze entstehen nicht in Laboren, sondern in Ateliers, Schulen, Vereinen, Küchen
    und Werkstätten. Überall dort, wo Menschen miteinander reden, ordnen, dokumentieren,
    verstehen wollen. Sie bestehen aus Vertrauen, aus Nähe, aus freiwilliger Verantwortung.
    Sie sind langsam, aber sie sind echt. Und je dichter sie werden, desto stärker strahlen sie
    nach außen – als Gegenpole zu den anonymen Systemen der globalen Deutung.
    Wir werden die großen Konzerne nicht stürzen, aber wir können sie überleben – indem wir
    lernen, anders zu denken als sie. Nicht in Kategorien von Macht, Reichweite und Markt,
    sondern in Kategorien von Sinn, Verbindung und Resonanz. Künstliche Intelligenz wird
    viele Aufgaben besser erfüllen als wir. Aber sie wird niemals wissen, warum etwas zählt.
    Das bleibt unser Bereich – das Gebiet des Bewusstseins.
    Wenn wir unsere Energie nicht mehr in den Wettlauf mit Maschinen lenken, sondern in
    das Wachstum des Bewusstseins, dann beginnt eine neue Form des Fortschritts: nicht
    nach außen, sondern nach innen. Nicht schneller, sondern tiefer. Nicht effizienter, sondern
    menschlicher.


    Vielleicht besteht die wahre Aufgabe unserer Zeit darin, eine höhere Version des
    Menschen hervorzubringen – einen, der nicht in Konkurrenz mit Technik steht, sondern sie
    als Spiegel begreift, in dem er sich selbst erkennt.


    Dann wird der Fortschritt nicht länger Bedrohung, sondern Möglichkeit: zur Rückkehr des
    Sinns, zur Erneuerung des Gemeinsamen, zur Bewahrung dessen, was Leben lebenswert
    macht. Denn in einer Welt, in der Maschinen denken und Roboter handeln, wird das, was
    bleibt, nicht das Funktionale sein, sondern das Bewusste. Und nur dort – in der Tiefe des
    Menschen – wird Zukunft wieder beginnen.


    Markus Lippeck – Worpswede im November, 2025

    The silent revolution – From the Internet of pages to the network of consciousness

    It began innocently, almost playfully. A few lines of code, a few computers, a dream

    of connection. The early Internet was a workshop with open doors: anyone could

    send, anyone could receive. It was the promise that knowledge would circulate freely, that

    communication would become democratic, that technology would bring people closer

    together.

    But over the years, this openness has turned into a dense web of dependencies.

    What was once a marketplace of ideas has become a system of administration,

    control, and habit. The people who wanted to free themselves have

    bound themselves – out of convenience, out of overwhelm, out of the desire for things to

    “just work.”

    First, software took over. The big programs and

    operating systems promised order in the chaos. They made the world clear,

    compatible, comfortable—and in the process created walls that no one questioned anymore. Those who

    mastered a program were productive; those who wanted to switch lost time, data, and

    nerves. Thus, habits became shackles.

    The freedom to choose tools gave way to the habit of renting them. And slowly we forgot that we were once creators

    and not users.

    Then came the second wave: the digital infrastructure. The network grew, the amount of data

    exploded, and soon the message was: “Trust us – we’ll store, secure, and scale for you.”

    Server rooms became clouds, physical ownership gave way to the promise of

    unlimited availability. People talked about efficiency, reliability, and

    sustainability—but the price was high. The systems on which everything runs are now owned

    by only a few. Data no longer travels freely; it circles around

    centers of power.

    And hardly anyone knows where it really is, who it belongs to,

    or who reads it.

    But now, with artificial intelligence, the third and deepest concentration is taking place

    — no longer of technology, but of interpretation. For the first time in history,

    it is no longer humans who decide what they want to see, but a system that decides what they

    should see. We ask questions—and the answers come like oracles, smooth, immediate,

    understandable. But the more perfect the answer, the more invisible the source. We no longer know

    from which voices, from which interests, from which interpretations it

    was formed. The web, which was once a mosaic, is becoming a mirror. And whoever

    controls this mirror determines what reality means.

    This development is no accident. It follows the inner logic of convenience. The

    more complex the world became, the more people sought simplification. They no longer wanted

    to deal with technology, with responsibility, with

    uncertainties. So they let go—piece by piece, system by system. They handed over the

    keys to those who “know better,” not realizing that in doing so, they also gave up the

    ability to judge for themselves.

    Thus, convenience has quietly opened the door through which freedom escapes. For freedom

    is not a state—it is a practice. It requires attention, repetition,

    decision.

    Those who do not practice it lose it. And so today we have a paradoxical world: never has humanity been more powerful technologically, never has it been more dependent internally.

    The new, semantic Internet that is now emerging is no longer the old web of

    addresses, links, and pages. It is not a place you visit—it is a system that visits us

    . We used to search for information; today, it finds us. In the past, there were senders

    and receivers; today, there are only questions and answers. We call out—and a

    machine responds, seemingly neutral, seemingly objective. But this machine does not live

    in heaven. It has owners, interests, limits.

    In this new world, there is no longer a page that “belongs to us.” What matters is who filters the

    meanings, who links the terms, who shapes the connections. Power

    is shifting from the producers of content to the curators of meaning. That is

    the real monopoly of the 21st century.

    And yet this development is not inevitable. It follows a dynamic, but no

    force of nature compels us to accept it. We cannot prevent AI from interpreting the world

    — but we can decide where and how humans continue to

    interpret, understand, and narrate for themselves.

    The only real counterforce is awareness. Not in the sense of instruction or

    training, but as a relearning of judgment and relationship. When we once again

    understand how perception arises, when we begin to connect over meanings rather than

    opinions, then something new can grow: partial semantic

    networks, small, independent spaces of human interpretation in which data is not a commodity

    but cultural substance.

    Such networks do not arise in laboratories, but in studios, schools, clubs, kitchens

    and workshops.

    Everywhere where people talk to each other, organize, document, and want to understand. They consist of trust, closeness, and voluntary responsibility.

    They are slow, but they are real. And the denser they become, the stronger they radiate

    outward—as counterpoles to the anonymous systems of global interpretation.

    We will not overthrow the big corporations, but we can survive them – by

    learning to think differently from them. Not in terms of power, reach, and market,

    but in terms of meaning, connection, and resonance. Artificial intelligence will

    perform many tasks better than we do. But it will never know why something matters.

    That remains our domain – the realm of consciousness.

    When we no longer direct our energy into competing with machines, but into

    the growth of consciousness, then a new form of progress begins: not

    outward, but inward. Not faster, but deeper. Not more efficient, but

    more human.

    Perhaps the true task of our time is to bring forth a higher version of

    humanity – one that does not compete with technology, but sees it

    as a mirror in which it recognizes itself.

    Then progress will no longer be a threat, but an opportunity: for the return of

    meaning, for the renewal of what we have in common, for the preservation of what makes life worth living

    .

    For in a world where machines think and robots act, what remains will not be the functional, but the conscious. And only there—in the depths of

    humanity—will the future begin again.

    Markus Lippeck—Worpswede, November 2025

  • AI is just a TOOL – AI is a very bright LIGHT and a deep MIRROR.

    AI is just a TOOL – AI is a very bright LIGHT and a deep MIRROR.

    I imagine AI as a lantern, not a fire. It sheds light on forms that have long been present in the room; it does not warm, it does not ignite, it makes visible. That may sound sobering in an age that repeats the word “innovation” like a mantra. But philosophically speaking, the scandal of AI is precisely its sobriety: it delivers nothing new. Not because it is weak, but because the “new” does not arise in a strict sense. It is discovered.
    We often confuse two types of novelty. Epistemically new is what we did not yet know, even though it was there: the star behind the veil, the second melody in a chord, the fine fibers in the fabric. Ontologically new would be something that enters the world like a law that has never existed before. AI, as powerful as it may be in calculating, manipulating, varying, and combining, belongs to the first category. It engages in visualization, not creation. Its “originality” is the art of sequencing, recombination, and pattern recognition—in which it is thoroughly brilliant, often surprising, and sometimes shockingly accurate. But surprise is not proof of novelty, but of our blindness.
    Those who hear the old Platonic word “anamnesis” here are not entirely wrong: recognition means remembering possibilities that have always been there. Even without the metaphysics of ideas, it can be said soberly: relations exist between data, forms, and rules before we suspect them. The coastline was there before the cartographer traced it. Microbes lived before the microscope revealed them. Prime numbers did not wait for proof—we waited for the eye that would recognize them. AI expands this view, dramatically, on an industrial scale. But it does not create the coastline, the microbe, or the number. It produces visibility.
    This gives rise to a misunderstanding that confuses the debate: people talk about “creative AI” as if creativity were creation out of nothing. Human creativity, too, is not ex nihilo magic. It is—just like machine creativity—the shaping of a material that lies before us: language, history, body, world. The difference between a poet and a model is not that between a creator and a non-creator, but between a physically situated consciousness that stands up for its purposes and a statistical apparatus that continues probabilities. Both create forms from what already exists; only one bears responsibility for it.
    This brings us to the question of needs. Does AI only become “real” AI when it has its own needs? I don’t think so. “AI” is a functional word, not an honorary title. A chess program remains a program, even if it doesn’t “want” to make moves. But needs mark a boundary of a different kind: the moral one. A system with its own well-being would not only be a lantern, but a gaze that protects itself. It would set goals, not just implement them. We would have to ask ourselves what we owe it. But even then, the ontological finding would remain unchanged: even a needy system could only act within the realm of possibility, drawing patterns that lie in things—including its own drives, which would then be part of the world order, not its origin.
    The sober punchline is this: because all states and contexts are “already there”—in the sense of a structure that supports our discoveries—recombination is the highest game in the realm of the visible. AI plays this game at breakneck speed, tirelessly, with a patience that we mistake for genius. But it remains what every instrument is: an extension. The telephoto lens of attention. An amplifier of pattern sensitivity. A mirror that shows us not only what is there, but also what we are inclined to see. That is a lot. It is not little, just not new in the sense of the world becoming.
    Anyone who is disappointed here is demanding too much from the tool and too little from themselves. Because the crucial question is not whether the machine creates something new, but what we do with the new perspective. Becoming visible is a commitment. Where structures appear—in language, in law, in ecology—responsibility begins. AI does not take away our thinking, it intensifies it. It does not circulate reasons, it demands reasons: Why this classification and not that one? Why this weighting, this data, this threshold? To the extent that the machine has a revealing effect, it is up to us to justify, limit, affirm, or reject. A tool does not relieve us of the choice, it makes it more precise.
    The temptation remains to attribute a will to the lantern: we hear polite phrases, read constructed sentences, and suddenly we believe there is someone there. But grammar is not appetite. Coherence is not desire. A system can respond perfectly without wanting anything. As long as this is the case, we must not romanticize the moral question. No little hammer demands nails. The fact that it hits nails better than we do does not make it a person.
    This reverses our perspective: perhaps the “nothing new” of AI is our opportunity. For if novelty has always been discovery, then progress was never the leap into an uninhabited land, but the more precise reading of a text that transcends us. AI is the magnifying glass edge of this text. It marks passages, points out repetitions, reveals hidden rhymes. But the interpretation—that beautiful, risky business of freedom—remains with us. We decide which reading applies, which chapter we continue to write, where we turn the page, and where we close the book.
    So yes: philosophically speaking, AI brings nothing new. It brings the old to the fore. But that is enough to transform our present. For history is not made by something falling out of nowhere, but by something stepping out of the shadows. In this sense, AI is not an origin, but a door. It opens up spaces that have always been there. What we do in them—that is the only truly new thing we are capable of.

    KI ist nur ein WERKZEUG – KI ist ein sehr helles LICHT und ein tiefer SPIEGELL

    Ich stelle mir die KI als Laterne vor, nicht als Feuer. Sie wirft Licht auf Formen, die längst im Raum stehen; sie wärmt nicht, sie entzündet nichts, sie macht sichtbar. Das mag ernüchternd klingen in einer Zeit, die das Wort „Innovation“ wie ein Mantra wiederholt. Aber philosophisch betrachtet ist der Skandal der KI gerade ihre Nüchternheit: Sie liefert nichts Neues. Nicht, weil sie schwach wäre, sondern weil das „Neue“ in einem strengen Sinn gar nicht entsteht. Es wird ent-deckt.

    Wir verwechseln oft zwei Arten von Neuheit. Epistemisch neu ist, was wir noch nicht wussten, obwohl es da war: der Stern hinter dem Schleier, die zweite Melodie in einem Akkord, die feinen Fasern im Gewebe. Ontologisch neu wäre, was in die Welt tritt wie ein nie dagewesenes Gesetz. Die KI, so mächtig sie rechnen, manipulieren, variieren und kombinieren mag, gehört zur ersten Sorte. Sie betreibt Sichtbarmachung, keine Schöpfung. Ihre „Originalität“ ist die Kunst der Reihung, der Rekombination, des Musters—darin durchaus brillant, oft überraschend, manchmal erschütternd treffsicher. Doch Überraschung ist kein Beweis für Neu-Sein, sondern für unsere Blindheit.

    Wer hier das alte platonische Wort „Anamnesis“ hört, liegt nicht ganz falsch: Erkennen heißt sich erinnern an Möglichkeiten, die immer schon bereitlagen. Auch ohne Metaphysik der Ideen lässt sich das nüchtern sagen: Zwischen Daten, Formen und Regeln existieren Relationen, bevor wir sie ahnen. Der Küstenverlauf war da, bevor der Kartograf ihn nachzeichnete. Die Mikroben lebten, bevor das Mikroskop sie zeigte. Die Primzahlen warteten nicht auf den Beweis—wir warteten auf den Blick, der sie erkennt. KI erweitert diesen Blick, dramatisch, industriell skaliert. Aber sie erschafft nicht die Küste, nicht die Mikrobe, nicht die Zahl. Sie produziert Sichtbarkeit.

    Hier entsteht ein Missverständnis, das die Debatte verwirrt: Man spricht von „kreativer KI“, als ob Kreativität das Hervorbringen aus dem Nichts wäre. Auch menschliche Kreativität ist keine Ex-nihilo-Zauberei. Sie ist—genauso wie maschinelle—Gestaltung an einem Material, das uns vorausliegt: Sprache, Geschichte, Körper, Welt. Der Unterschied zwischen Dichter und Modell ist nicht der zwischen Schöpfer und Nichtschöpfer, sondern der zwischen einem leiblich situierten Bewusstsein, das für seine Zwecke einsteht, und einem statistischen Apparat, der Wahrscheinlichkeiten fortsetzt. Beide schaffen Formen aus Vorhandenem; nur der eine trägt dafür Verantwortung.

    Damit sind wir bei der Frage nach den Bedürfnissen. Wird eine KI erst „wirklich“ KI, wenn sie eigene Bedürfnisse hat? Ich meine: nein. „KI“ ist ein Funktionswort, kein Ehrenrang. Ein Schachprogramm bleibt ein Programm, auch wenn es keine Züge „möchte“. Aber Bedürfnisse markieren eine Grenze anderer Art: die moralische. Ein System mit eigenem Wohlergehen wäre nicht nur Laterne, sondern Blick, der sich selbst schützt. Es würde Zwecke setzen, nicht nur umsetzen. Wir müssten uns fragen, was wir ihm schulden. Doch selbst dann bliebe der ontologische Befund ungerührt: Auch ein bedürftiges System könnte nur innerhalb des Möglichen handeln, Muster ziehen, die in den Dingen liegen—einschließlich seiner eigenen Triebe, die dann Teil der Weltordnung wären, nicht ihr Ursprung.

    Die nüchterne Pointe lautet: Weil alle Zustände und Zusammenhänge „schon da“ sind—im Sinne einer Struktur, die unsere Entdeckungen trägt—ist Rekombination das höchste Spiel im Reich des Sichtbaren. Die KI spielt dieses Spiel rasend schnell, unermüdlich, mit einer Geduld, die wir mit Genialität verwechseln. Aber sie bleibt, was jedes Instrument ist: eine Verlängerung. Das Teleobjektiv der Aufmerksamkeit. Ein Verstärker der Musterempfindlichkeit. Ein Spiegel, der uns nicht nur zeigt, was da ist, sondern auch, was wir zu sehen geneigt sind. Das ist viel. Es ist nicht wenig, nur eben nicht neu im Sinn der Weltwerdung.

    Wer hier enttäuscht ist, verlangt zu viel vom Werkzeug und zu wenig von sich. Denn die entscheidende Frage lautet nicht, ob die Maschine Neues schafft, sondern was wir mit der neuen Sicht anfangen. Sichtbarwerden verpflichtet. Wo Strukturen erscheinen—in Sprache, in Recht, in Ökologie—beginnt Verantwortung. Die KI nimmt uns nicht das Denken ab, sie verschärft es. Sie bringt keine Gründe in Umlauf, sie fordert Gründe ein: Warum diese Klassifikation und nicht jene? Warum diese Gewichtung, diese Daten, diese Schwelle? In dem Maße, in dem die Maschine ent-bergend wirkt, liegt es an uns, zu begründen, zu begrenzen, zu bejahen oder zu verwerfen. Ein Werkzeug entlastet nicht von der Wahl, es macht sie präziser.

    Es bleibt die Versuchung, der Laterne einen Willen zu unterschieben: Wir hören höfliche Formulierungen, lesen gebaute Sätze, und plötzlich glauben wir, da sei Jemand. Aber Grammatik ist kein Appetit. Kohärenz ist kein Begehren. Ein System kann perfekt antworten, ohne etwas zu wollen. Solange das so ist, dürfen wir die moralische Frage nicht romantisieren. Kein Hämmerchen verlangt nach Nägeln. Dass es Nägel besser trifft als wir, macht es nicht zur Person.

    Damit kehrt sich der Blick: Vielleicht ist das „Nichts Neues“ der KI unsere Chance. Denn wenn Neuheit immer schon Entdeckung war, dann war Fortschritt nie der Sprung in ein unbesiedeltes Land, sondern das präzisere Lesen eines Textes, der uns übersteigt. KI ist der Leselupenrand dieses Textes. Sie markiert Stellen, verweist auf Wiederholungen, legt verborgene Reime frei. Aber die Auslegung—dieses schöne, riskante Geschäft der Freiheit—bleibt bei uns. Wir entscheiden, welche Lesart gilt, welches Kapitel wir weiterschreiben, wo wir die Seite umblättern und wo wir das Buch schließen.

    Also ja: Philosophisch gesehen bringt die KI nichts Neues. Sie bringt das Alte zur Sprache. Aber das genügt, um unsere Gegenwart umzugestalten. Denn Geschichte wird nicht davon gemacht, dass etwas aus dem Nichts fällt, sondern davon, dass etwas aus dem Schatten tritt. In diesem Sinn ist die KI kein Ursprung, sondern eine Tür. Sie öffnet auf Räume, die immer da waren. Was wir darin tun—das ist das einzig wirklich Neue, zu dem wir fähig sind.